Die Wildkatze

Als „Tier des Jahres 1993“ wurde von der SCHUTZGEMEINSCHAFT DEUTSCHES WILD die Wildkatze ausgewählt. Viele Gründe sprechen für diese Wahl: Der wichtigste ist, dass diese Tierart, die zu Beginn des Jahrhunderts am Rand der Ausrottung stand, auch heute noch selten ist.

Ein weiterer Grund ist die ökologische Bedeutung der Wildkatze, die vorwiegend in Wäldern lebt und für dieses Ökosystem besondere Bedeutung hat. Fachleute weisen daraufhin, daß in Verbindung mit anhaltendem Waldsterben und großen Windwürfen auf den Kahlflächen vor allem Mäuse sich rapide vermehren und zu einem ernst zu nehmenden Problem werden. Eine Wildkatze verzehrt wenigstens ein Dutzend der Nager pro Tag. Mäuse stellen überhaupt die Grundnahrung dar. Wenn ein Kuder – die männliche Wildkatze – gelegentlich einmal einen Hasen oder einen Vogel fängt, handelt es sich vor allem um alte, kranke oder schwache Tiere, die ohnehin kaum noch eine Überlebenschance haben.

wildkatze

Es ist also falsch, wenn die Wildkatze bis in die jüngste Vergangenheit oft als „gierige Räuberin“ dargestellt wurde, die Beutetiere bis zur Größe eines Rotwildkalbes reiße. Zahlreiche Untersuchungen haben ergeben, daß der „silbergraue Herr der Berge“ in der Nahrung zu neun Zehnteln auf Mäuse und andere Kleinnager spezialisiert ist.

Die Katze mit der wissenschaftlichen Bezeichnung Felis silvestris silvestris ist ein Tier der Mittelgebirge und der unteren Lagen des Hochgebirges. Sie meidet Gebiete mit geschlossener Schneedecke, weil sie dort kaum Aussichten hätte, ihre hauptsächliche Beute, Kleinnager, zu erwischen. Das scheue und deshalb nur erst selten in freier Wildbahn fotografierte Tier mit dem buschigen geringelten Schwanz ist nicht nur ein Kind des Waldes, sondern auch der Sonne, das in seinem Lebensraum südliche Flächen deutlich bevorzugt und Sonnenbäder liebt. Gerne jagt die Wildkatze auf größeren Waldwiesen und in offenem Gelände.

wildkatze tier des jahres 1993

1934 wurde die Wildkatze unter Schutz gestellt. Sie ist unter „stark gefährdet“ in den Roten Listen der bedrohten Arten verzeichnet. Neben der Beeinträchtigung des Lebensraumes stellt der Straßenverkehr die größte Gefahr dar. Untersuchungen in Bayern ergaben, daß bei den zur Wiedereinbürgerung markierten tot aufgefundenen Tieren zu 83,5 Prozent der Straßenverkehr die Todesursache war. Der Bayerische Staatsminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten erklärte, es sei bedauerlich, daß so viele Wildkatzen dem Verkehr auf der Straße zum Opfer fielen und auch möglicherweise aus Unkenntnis erlegt würden.

Die SCHUTZGEMEINSCHAFT DEUTSCHES WILD setzt sich besonders dafür ein, daß bei den unumgänglichen Maßnahmen gegen wildernde oder verwilderte Hauskatzen stets darauf geachtet wird, nicht versehentlich auf eine Wildkatze zu schießen. Die Wahl der Wildkatze zum „Tier des Jahres“ sollte deshalb von noch unerfahrenen Jägern zum Anlaß genommen werden, sich mehr noch als bisher mit dieser Tierart zu befassen.

Auf leisen Sohlen, vom Menschen kaum bemerkt, ist die Wildkatze in die deutschen Wälder zurückgekehrt – mit Menschenhilfe. So gibt es seit 1984 das Wildkatzen- Wiederansiedlungsprogramm, das der Bund Naturschutz in Bayern in Gang brachte. Im Oktober dieses Jahres wurden noch mit der Hilfe des 1987 verstorbenen Prof. Bernhard Grzimek begonnen Förderung die ersten 18 jungen Wildkatzen an drei Stellen des Freistaates ausgesiedelt. In den darauffolgenden fünf Jahren wurden von der Wildkatzen-Zuchtstation Wiesenfelden in Bayern 103 Tiere aus verschiedenen Zoos und Wildgehegen Europas erworben und 70 von ihnen zur Zucht verwendet. Bis Anfang 1993 waren insgesamt 220 Wildkatzen wiedereingebürgert.

Insgesamt leben heute in Deutschland noch zwischen 1000 und 2000 der „wilden Schönen“ aus ursprünglichen Beständen. Es gibt sie im Harz und Hunsrück, in Nordhessen, der Eifel und im Westerwald. Die Lücke Bayern wurde durch das geschilderte Wiedereinbürgerungsprogramm geschlossen.

Die Wiederansiedlungsaktionen sind von der SCHUTZGEMEINSCHAFT DEUTSCHES WILD und auch von den Jägern als vorbildlich angesehen worden. Vor allem deshalb, weil sie durch vorherige Aufklärung der Bevölkerung in der richtigen Weise vorbereitet werden. Durch Diavorträge, Flugblätter und Fernsehsendungen sowie Beiträge in der Presse wird die Bevölkerung, die in der Nähe der Wildkatzen lebt – obwohl sie ihre neuen Nachbarn kaum jemals zu Gesicht bekommt -, von der Menschenscheu dieser Tierart und ihrer hohen Bedeutung für das Wald-Ökosystem überzeugt.

Noch längst nicht alles aus dem Leben der Wildkatze ist bekannt, für die Zoologen ist noch manches mit Fragezeichen versehen. So zum Beispiel die Nutzung des Lebensraumes und das Verhalten der Tiere bei Beeinträchtigung des Biotops durch menschliche Eingriffe. Deshalb gibt es seit wenigen Jahren Telemetrie-Untersuchungen, bei denen mit Sendern versehene Wildkatzen Hinweise über das Revierverhalten liefern. Diese Langzeitstudien zum Raumverhalten der sonst nur schwer zu beobachtenden Tiere sind noch im Gange und werden bis zum Ende des 10-Jahre-Wiedereinbürgerungsprogrammes fortgeführt.

Ein weiterer Gefahrenpunkt für die Wildkatze ist – worauf die SCHUTZGEMEINSCHAFT ausdrücklich hinweist – die Zerstörung der genetischen Integrität durch Kreuzung mit den verschiedenen Rassen der Hauskatzen. Denn wenn es wahrscheinlich – die Forschung weiß das noch nicht genau – auch nicht allzu oft geschieht, so kommt es aber doch vor, daß zur Ranzzeit im Februar und März Hauskatzen den schaurig-schönen Liebesgesängen der Wildkatzen nicht widerstehen können und sich paaren. Die Folgen sind Nachkommen mit den verschiedensten Farbvarianten, die Wildkatzen mehr oder weniger ähneln, oft genug so sehr, daß ein solcher „Blendling‘ – wie sie in der Fachsprache heißen – kaum von einer Wildkatze zu unterscheiden ist.

Über die Wildkatzen kann also nicht gesprochen werden, ohne dabei das Problem der Hauskatzen zu berücksichtigen. Die SCHUTZGEMEINSCHAFT DEUTSCHES WILD hat diese Frage immer wieder zur Diskussion gestellt und betont, daß die Rolle der streunenden, wildlebenden oder gar verwilderten Hauskatzen in der Natur allzu oft unterschätzt wird. Es gibt Untersuchungen von Biologen, die zumindest lokal oder regional einen Einblick erlauben, welchen Schaden solche Katzen in der Natur anrichten können. Einer der Zoologen fand heraus, daß eine freilaufende Katze im Verlauf von 18 Monaten 62 Vögel unter ihren Beutetieren hatte – eine zwar auf den ersten Blick geringe Zahl, die aber doch erschrecken läßt, wenn sie mit vielen Tausenden von Katzen hochgerechnet wird. Denn in Deutschland gibt es über 6 000 000 Hauskatzen, fünf von hundert Bürgern halten ein Katzentier, in Österreich sind es gar 88 von 100. Die Forschungsarbeit eines anderen Biologen ergab, daß jeder zweite der von einer Katze erbeutete Vogel zu den geschützten Arten gehörte. Aus England sind Untersuchungen bekannt geworden, wonach alljährlich nicht weniger als rund 20 Millionen Gefiederte durch Hauskatzen getötet werden.

Um nicht mißverstanden zu werden: Die SCHUTZGEMEINSCHAFT ist nicht gegen Katzen; auch sie sind – wie in einer Publikation gesagt – „zauberhafte und bewundernswerte Geschöpfe“. Ihnen wird aber nur gerecht, wer bedenkt, daß auch die mit dem Menschen zusammenlebende Hauskatze ein Jäger ist, mag sie auch noch so gut gefüttert werden. Das ändert an ihrer Veranlagung gar nichts – sie geht auf Jagd, sobald sie die Gelegenheit dazu findet. Mag der warme Platz nahe der Heizung und leckeres Futter ihr noch so sehr zusagen, sie wird stets ihrem natürlichen Trieb folgen und – wenn unbeaufsichtigt – in einen Garten, Park oder gar den Wald verschwinden.

Die Hauskatze ist keinem Selektionsdruck ausgesetzt – sie ist eine Privilegierte. Sie kann eine ungewöhnlich hohe Siedlungsdichte haben, und dies wiederum führt zu starken, oft schlimmen und manchesmal sogar katastrophalen Eingriffen in die Beutetier-Populationen. Omithologen haben immer wieder feststellen müssen, daß lokal – beispielsweise in einer Gartenanlage – die Vogelwelt bis auf wenige Arten zurückging, weil freilaufende Katzen Bestände dezimierten oder gar auslöschten. Das kann nicht geduldet werden, weil unbestritten ist, welch ökologischen Wert eine artenreiche Tierwelt hat.

In Wald und Flur ist es nicht anders. Artenvielfalt ist geboten und unter dem Aspekt eines modernen Umwelt- und Naturschutzes lebensnotwendig: für die Natur und letztlich auch den Menschen. Und deshalb setzt die SCHUTZGEMEINSCHAFT DEUTSCHES WILD sich für eine vernünftige und verantwortungsvolle Haltung der Hauskatze ein. Deshalb plädiert sie an alle Katzenfreunde – nicht nur im Interesse der freilebenden Tierwelt, sondern auch ihrer eigenen Tiere – dafür Sorge zu tragen, daß ihre Lieblinge nicht streunen und nicht zum Schrecken im Wald, auf den Feldern, in Parks und im Garten werden, ganz besonders in der Brutzeit der Vögel. Leichtfertigkeit kann die Folge haben, daß die Katze, die es im Gegensatz zu ihrem Besitzer nicht besser weiß, erschossen wird.

Gedanken an die Wildkatze, das „Tier des Jahres 1993“, sollten für jeden, der ein Herz für die Natur und ihre Lebewesen hat, zugleich auch Überlegungen auslösen, die der Rolle des Haustieres Katze gelten: Beide brauchen Schutz in einem wohlverstandenen Sinne.

Jana Brinkmann-Werner
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