Das Rotwild

Das Rotwild ist von der SCHUTZGEMEINSCHAFT DEUTSCHES WILD zum „Tier des Jahres 1994“ gewählt worden. Der Grund für diese Wahl ist die zunehmende Bedrohung dieser größten freilebenden Tierart in Deutschland, besonders durch die immer enger werdenden Lebensräume. In vielen Briefen und Anrufen wurde die Schutzgemeinschaft immer wieder darauf aufmerksam gemacht; da ist die Rede von „gnadenloser Rotwilddezimierung“, da wird berichtet, „der Bestand wird schonungslos verringert, so daß nur noch selten Wild zu sehen ist“.

rotwild

Eine Reihe von Tierarten der weltweit 31 Arten zählenden Hirschfamilie sind im Laufe der Zeit verschwunden; so zum Beispiel der Riesenhirsch und Schomburgk’s Hirsch. Andere wie der Dybowskihirsch oder der nordafrikanische Berber- oder Atlashirsch konnten nur mit strengen Schutzmaßnahmen erhalten werden. Es besteht Gefahr, daß auch das Rotwild in Deutschland zu einer Rote-Liste-Art werden könnte: sowohl im Hinblick auf seine Bestandszahl als auch wegen genetischer Verarmung.

rotwild tier des jahres 1994

Ursprünglich kam das Rotwild in unseren Ländern flächendeckend vor. Das änderte sich, es wurde durch die landwirtschaftliche Intensivbewirtschaftung verdrängt. Das Rotwild wird in diesen Gebieten aufgrund der Schäden, die es anrichtet, seit langem schon nicht mehr geduldet. So entstanden die „rotwildfreien Gebiete“, was zur Folge hatte, daß nur noch größere zusammenhängende Waldregionen Rückzugsgebiete dieser Wildart sein können. Hinzu kommt, daß dem Wild durch Besiedlung und Verkehrswege die natürlichen Wanderbewegungen unmöglich gemacht wurden. Die Tiere können nicht mehr wie früher ungehindert zur Sommerzeit in den Hochlagen der Alpen oder dem Mittelgebirge leben und im Winter die nahrungsreichen Regionen der klimatisch milderen Talauen aufsuchen. Die dem Rotwild verbliebenen Gebiete liegen heute durch „rotwildfreie Zonen“ isoliert in der Landschaft. R. Kitzmann schreibt in „Naturschutz heute“: Dem Rotwild „droht Gefahr durch Verinselung“ …“heute lassen sich die international hinlänglich untersuchten und belegten Isolationsfolgen … nicht länger leugnen.

Biologen wie Dr. Erhard Ueckermann sprechen sogar von „Kleinstvorkommen des Rotwildes“, etwa am Niederrhein. Um diese Bestände zu erhalten, seien genetische Untersuchungen über die ganze Breite der erblichen Anlagen notwendig. Und nochmals der Naturschutzbund Deutschland: „Angesichts dieser bedrohlichen Entwicklung liegt es nahe, das räumliche Ordnungskonzept der Rotwildgebiete und rotwildfreien Zonen kritisch zu überprüfen“. Ausreichende Ruhezonen müssen eingeplant werden.

hirsch

Besonders schwierig ist die Situation des Rotwildes in den Gebirgsregionen, vor allem in den Alpen. Wenn es dort zuviel Wild gibt, geht dies vielfach auf weit zurückliegende Ursachen zurück. Die Einstufung der Forsten unter dem Begriff des „Ewigen Waldes“ im 17. Jahrhundert änderte sich im Alpenraum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weitgehend. „Ewiger Wald“ bedeutete, daß nur soviel an Bäumen eingeschlagen werden sollte, wie natürlich nachwächst. Industrialisierung und Verkehr, vor allem der Eisenbahnbau, ließen die Bedeutung des Waldes sinken, sein wirtschaftlicher Wert wurde vermindert. Hinzu kamen aber auch Faktoren wie die Ausmerzung von Wolf, Luchs und Bär sowie Beeinträchtigung der natürlichen Auslese. Hinzu kommt vielfach nicht naturgemäße oder übermäßige Winterfütterung und eine Schonung der weiblichen und jungen Tiere. Dadurch stieg oft die Zahl an Rot-, Reh- und Gamswild auf ein Mehrfaches dessen an, was unter natürlichen Bedingungen tragbar gewesen wäre. Die Konsequenz war in Verbindung mit einer heute als falsch erkannten, auf Monokultur ausgerichteten Forstpolitik übermäßiges Verbeißen von Jungbeständen und Schälen vor allem von Nadelhölzern. Diese Entwicklung führte letztlich dazu, daß der Begriff der „Bergwaldsanierung“, zu deren Lösung die Ansichten jedoch auseinandergehen, schillernd wurde. Da liest man Forderungen nach „Ausrottung des Rotwildes“ bis zum „Allheilmittel“ des Einsperrens des Rotwildes in Wintergattern, aber auch die laienhafte Vorstellung, die Wiedereinbürgerung des Großraubwildes Bär, Luchs und Wolf oder gar ein Jagdverbot könnten das Wald-Wild-Problem lösen.

„Eigentlich ist aus ökologischer Sicht Wildverbiß kein Schaden“, stellt Dr. Volker Guthörl vom Europäischen Wildforschungs-Institut (EWI) fest. „Bevor der Mensch eingriff“, ergänzt Institutsleiter Dr. Kalchreuter, „gab es keinen Wildschaden, doch je mehr der Mensch den Forst zum Wirtschaftswald machte, desto mehr wurde vom Schaden gesprochen“. Wo es beispielsweise zu 100 Prozent Wirtschaftswald gibt, kann man alles als Schaden betrachten. Auch das Argument, das Wild würde zur „Entmischung des Waldes beitragen“, ist – so Kalchreuter – falsch. Wenn der Wald natürlich wachsen kann, stellt das Wild sich auf die entsprechenden Baum- und Pflanzenarten ein.

reh mit kitz

Wenn das Rotwild bleiben soll, muß ein gewisses Maß an forstlicher Beeinträchtigung toleriert werden. Man muß aufhören zu versuchen, die Verbiß- und Schälschäden, die das Rotwild verursacht, allein durch erhöhte Reduktionsabschüsse unter Kontrolle zu bringen. Vielmehr, sagen die Experten, ist es auch notwendig, den Tieren durch Verbesserung des natürlichen Äsungsangebotes zusätzliche Nahrung zur Verfügung zu stellen – nur so kann das Wild von nicht tolerierbaren Schäden auf Flächen der Waldverjüngung abgelenkt werden. All dies hatte die seit Jahren lebhaft diskutierte Argumentation „Wald oder Wild“ zur Folge. Auch die Schutzgemeinschaft vertrat stets die Auffassung, die Forderung müsse lauten, daß der Wald nicht ohne Wild sein dürfe und alles getan werden müsse, beide lebensfähig zu erhalten. Hierfür gibt es zahlreiche Argumente. Eines davon sind die Wechselbeziehungen zwischen Wald und Wild. Wald- und Talwiesen und der ökologisch wichtige Lebensraum des Magerrasens brauchen die Wildtiere, bei deren Verschwinden auch zahlreiche Pflanzen und von ihnen abhängige Insektenarten – darunter sogar Rote- Liste-Arten – keine Existenzmöglichkeit mehr hätten. Beispiele aus dem Pflanzenreich sind Bärwurz und Sonnenröschen.

Um die Zukunft des Rotwildes zu sichern, plädiert die SCHUTZGEMEINSCHAFT DEUTSCHES WILD gegen die zu oft geforderten Wintergatter. Solche Gatter sind ein Widerspruch zu dem, was unter freilebender Tierwelt verstanden wird. Das Rotwild ist eine Tierart, die Bewegung braucht, sein Wohlbefinden hängt weitgehend von uneingeschränkter Wanderung ab. Diese ist, wie bereits geschildert, ohnehin schon stark eingeschränkt und wird durch Gatter noch mehr begrenzt. Wintergatter sollen, auch wenn dies nur selten zugegeben wird, nicht zuletzt dazu führen, einen überhöhten Wildbestand zu halten. Der gesetzlich gegebene Auftrag lautet jedoch, den Tierbestand den gegebenen Voraussetzungen anzupassen. Tiere sind nicht der totalen Verfügungsgewalt des Menschen unterworfen. Er hat dafür zu sorgen, daß sie in ihrer Art erhalten werden und einen höchstmöglichen Freiraum haben.

Es gibt zahlreiche Beispiele für andere Lösungen. In der Erprobung sind etwa Vorschläge wie das „Pregnitzer Modell“ oder das „Vogelsberg-Modell“. Beim erstgenannten, geht es darum, dem Rotwild einen bejagungsfreien Zeitraum von etwa acht Monaten dadurch einzuräumen, daß der Abschuß bis Ende Oktober vorgenommen werden muß. Intensive Bejagung soll im Juni erfolgen, danach bis Mitte August Jagdruhe sein. Die ersten Erfahrungen mit dem Pregnitzer Modell werden vom Leiter des gleichnamigen Forstamtes hinsichtlich der Schälschäden als „verhalten positiv“ bezeichnet.

Das Modell Vogelsberg ist ein von Wildbiologen, Förstern und Jägern gemeinsam ausgearbeitetes Lebensraumkonzept für das Rotwild, mit dem die vielfältigen Wechselbeziehungen zwischen den Ansprüchen der größten deutschen Wildtierart an den Lebensraum und den menschlichen Einwirkungen darauf systematisch erfaßt und ausgewertet werden sollen. Ziel ist es, den Lebensraum des Rotwildes langfristig zu sichern und dabei die Ansprüche sowohl von Forstwirtschaft als auch von Jagd, Naturschutz und Naherholung so weit wie möglich in Einklang zu bringen. Die Störfaktoren für das Rotwild sollen damit verringert werden. Mit dem Projekt Vogelsberg sollen alle wichtigen Informationen über das Rotwild in einem Lebensraum-Gutachten dargestellt und die notwendigen Schlüsse daraus gezogen werden.

Einen Kompromiß zwischen den Ansprüchen des Wildes und des Menschen an den Lebensraum zu finden, ist auch die Forderung des Wildbiologen und Leiters der Forschungsstelle für Jagdkunde und Wildschadensverhütung in Nordrhein – Westfalen, Dr. Petrak. Die inselartigen Rotwildgebiete, in denen der Mensch das Wild heute noch duldet, müssen – so der Wissenschaftler – untereinander vernetzt werden. Wenn das nicht geschieht, droht die Gefahr, daß die Erbanlagen der isolierten Rotwildbestände verarmen. In der Praxis bewährt haben sich bereits Ergebnisse des Forschungsprojekts Achenkirch zur Erhaltung der alpinen Umwelt, das sich in den Tiroler Bergen u.a. auch mit den Fragen der natürlichen Gliederung der Schalenwildbestände nach Geschlecht und Alter intensiv befaßt. Die in diesem Rahmen erarbeiteten Infrastruktur-Richtwerte für das Rotwild sind die Grundlage für die Praxis. Von Mitarbeitern des Förderungsvereins für Umweltstudien (FUST) wurde z.B. ein auf diesen Richtwerten beruhendes und vom zuständigen Bundesministerium in Wien gefördertes Computerprogramm ausgearbeitet, das sich für die Abschussplanung beim Rotwild als hilfreich erwiesen hat.

Die SCHUTZGEMEINSCHAFT DEUTSCHES WILD ist aufgrund dieser Bemühungen und obwohl noch manche der natürlichen Gegebenheiten wissenschaftlich nicht ausreichend geklärt sind, der Ansicht, daß Tierbestände durchaus waldverträglich sein können. Nötig sind naturnahe Waldbewirtschaftung verbunden mit infrastruktur- und naturgerechter Wildbewirtschaftung. „Infrastrukturgerechte Schalenwildbewirtschaftung“ heißt: Wildarten, die heute keine natürlichen Feinde mehr haben, sind so zu bejagen, daß sie die ihnen verbliebenen Lebensräume in den von der Natur vorgegebenen sozialen Gruppierungen nach Geschlecht, Jung-, Haupt- und Altwild für ihre gesunde Entwicklung optimal nutzen können, ohne diese Lebensräume nachhaltig zu schädigen. Auch die übrige Waldnutzung durch Wanderer, Pilzsucher und Sportler muß diesen Ansprüchen genügen, selbst wenn gelegentlich zum Wohl der Natur Beschränkungen notwendig sind. Dies ist für alle machbar und tragbar: Forstleute, Bauern, Jäger und Naturschützer müssen eng zusammenarbeiten, um nicht nur dem Rotwild, dem „Tier des Jahres 1994“, das Überleben in unserem dicht besiedelten Land zu sichern, sondern auch um einem weiteren Verarmen unserer Natur entgegenzutreten.

Jana Brinkmann-Werner
Letzte Artikel von Jana Brinkmann-Werner (Alle anzeigen)